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Wer dem Weg bis hierhin gefolgt ist, wer die Bedeutung des Wortes ‹wahr› im Sinne von ‹wahrnehmen› für sich angenommen hat, wer ‹Wahrheit› als das gleichsame Wahrnehmen einer ‹Heit› von Wesen sieht und wer im Schritt vier das eigene Erleben erforscht hat und damit die ersten neun Ströme des Erlebens: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, körperliches Empfinden, Fühlen, Spüren und Denken in sich wahrhaftig erlebt und diese im eigenen Wahrnehmen differenzieren kann, dem und der ist es viel leichter, die Aussagen 51 bis 90 für und in sich selbst als wahr und unwahr zu erkennen. Welche dieser Aussagen beruht auf einem wirklichen inneren Erleben und was für ein Erleben in welchem der Ströme ist es?
«Mir geht es gut (51)» drückt den hohen Stand meiner Stimmung aus. Jeder von uns hat in nahezu jedem Moment eine Stimmung. Obwohl dieses Erleben für uns von wesentlicher Bedeutung ist, ist ‹Stimmung› eines der Worte, dessen Bedeutung und Gehalt von der Psychologie noch nicht eindeutig geklärt ist, siehe auch Schritt drei. Dabei erlebt jeder wach-bewusste Mensch in sich eine Stimmung, die mitunter ‹hoch›, mitunter ‹mittel› und zuweilen auch ‹tief› ist. Sie ist der Anteil von Freude oder Leid im Gefühlsgemisch.
Die Zeit ist eines der großen Mysterien des Menschseins. Wir scheinen «in der Zeit zu leben» und nur in Momenten des vollen Gewahrseins aus ihr herauszutreten. Zugleich bewegt sich jedoch die Welt weiter und jede Bewegung wie auch Entwicklung beinhaltet Zeit. Für uns ist Zeit vor allem in der Betrachtung von Bewegung und Änderung wahrnehmbar. Hätten wir kein Gedächtnis und würden allein im Moment leben, gäbe es keine Zeit und unser Leben wäre ein einziger Augenblick. Die Zeit selbst ist nicht wahrnehmbar; sie findet sich in den neun Strömen allein im Denken, denn ich kann Zeit weder sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, spüren, körperlich empfinden noch ist sie ein Gefühl. «Ich habe zu wenig Zeit (52)» ist damit weder wahr noch logisch, denn ich habe dieselbe Zeit in jedem Moment. Wahr ist zum Beispiel: «Ich bin mit dir in zwölf Minuten verabredet und im Moment noch über dreißig Kilometer weit entfernt.»
Die Aussagen 53, 54, 56, 57, 58 (und weitere) sind ebenso nicht wahrnehmbar im Sinne des für mich ‹Wahren›, siehe Schritt eins. Ich kann in mir Liebe empfinden und das Getränk vor mir sehen und seine Hülle tasten, doch die Verknüpfung meines Gemütsausdrucks mit diesem Gegenstand ist eine rein gedankliche (53). Im ganzheitlichen Sinne taste ich ‹das Leben› in jedem Moment mit den Tastzellen meiner Hände; was jedoch hinter Aussage 54 steht, ist die veränderliche Verbundenheit mit meinem vollständigen Erleben: Je mehr ich «in Gedanken» bin, desto weniger nehme ich die anderen Eindrücke und Ströme meines Erlebens wahr. Gleichzeitig beeinflussen mich Gefühle, Körperempfindungen, Sinneseindrücke und Gespürtes dennoch – für die und den, der seine Aufmerksamkeit überwiegend im Denken hält, geschieht dieses nun ‹unterbewusst›. Je offener wir sind, je mehr wir alle Eindrücke bewusst erleben, desto mehr sind wir mit dem Erleben und damit auch mit dem Leben ‹verbunden› und «halten unser Leben selbst in den Händen».
Unruhe ist zumeist ein zusammengesetztes Erleben: ein Körperzustand, ein Anteil von Angst im Gefühlsgemisch, Gedanken, die sich mit einem möglich bevorstehenden Geschehen beschäftigen und auch ein gespürter Eindruck. Im Spüren nehmen wir die inneren Zustände eines Mitmenschen wahr, von daher ist Aussage 55 dann wahr und wirklich, wenn es nicht meine eigene Unruhe ist, die ich im Moment erlebe.
Kausalität ( Aussage 9, 16, 28, 45, 56, 58, 66, 69, 73, 75 und 86) ist von keinem der Sinne wahrnehmbar und allein im Denken zu finden. Ich erlebe das Gefühl von Wut in mir (56), doch wer hat es mir ‹gemacht›? Kann ein anderer Mensch wirklich Gefühle in mir herstellen, seine Gefühle in mich hineinbringen? Ich spüre die Wut des anderen, das ist wahr. Doch nimmt jetzt mein Gefühl sogleich ebenso Wut an, nur weil mein Mitmensch dieses empfindet?
Alles Müssen und Sollen ist ein Gedanke und der Ausdruck eines fremden oder des eigenen Willens. Das Kind hört die Worte des Vaters und spürt seinen Willen, doch in seinem eigenen Erleben ist es nicht wahr im Sinne des Wahrnehmens, dass es nun die Zähne putzen ‹muss›. Möglicherweise erlebt es ‹Konsequenzen› aus seinem eigenen ‹Nicht-Handeln›, doch was im Leben ist eine Konsequenz und was der fortschreitende Fluss allen Geschehens?
Zur Zeit beginnen wir Menschen der westlichen Welt uns im breiten Maße des inneren Erlebens und all seiner Zusammenhänge zu widmen. Und doch stehen wir erst am Beginn dieser Erforschung. Erst, wenn wir sicher aus unserem Denken heraustreten können, wenn wir wirklich fühlen, spüren und unseren Körper empfinden können, wird sich all dieses innere Erleben wahr und wirklich zeigen. Zur Zeit ist vieles von uns ‹Festgestellte› mehr der Inhalt eines Gedankens und nicht eine wahrgenommene Wirklichkeit. In der Betrachtung meines Erlebens ist es wahr, dass ich diesen und jeden Gedanken ‹habe›. Ich höre oder sehe ihn in meinem Innern. Ebenso kann ich Gedanken in mir sprechen und damit erzeugen: «Mir geht es gut», «Du bist in meinem Herzen», «Ich habe keine Angst». Ich kann jeden beliebigen Satz denken. Doch nur, weil dieser Gedanke jetzt in mir ist, bedeutet es nicht, dass die Aussage des Gedankens wahr ist. Prüfe es selbst: Auch, wenn dein Gefühl überwiegend Leid zeigt, kannst du denken, dass es dir gut geht. Auch, wenn du zu einem Menschen vor dir keinerlei Verbindung hast, kannst du zu ihm oder ihr sagen, dass sie in deinem Herzen ist. Auch, wenn dein Gefühl Angst zeigt und dein Körper sogar zittert, kannst du denken, dass du keine Angst hast. Im Denken sind wir frei.
Der Gedanke ist wirklich in mir. Der Inhalt des Gedankens ist nicht unbedingt wahr.
Der Inhalt eines Gedankens ist wahr im Sinne des Wahrnehmens, siehe Schritt eins, wenn er ein wahrhaftiges Erleben der Sinne, des Körpers, des Fühlens oder Spürens von mir selbst oder eines anderen Menschen beschreibt. «Die Stoßdämpfer sind abgenutzt» ist wahr, wenn ich die Unebenheiten der Straße als Schläge durch die Karosserie taste. «Ich habe Hunger» ist wahr, wenn ich ein deines Drücken in meinem oberen Bauch empfinde und dort zuweilen auch ein Grummeln höre. Aussage 78 ist hier und heute wahr, denn ich habe es x-mal versucht und immer die Latte von ihren Ständern gerissen. Ich könnte jedoch fortan den Hochsprung trainieren; möglicherweise wird dann diese Aussage in einiger Zeit nicht mehr wahr sein.
Vieles heute in unserer Gesellschaft Verbreitete ist ein reines Konzept. Beispiele hierfür sind die Aussagen 31, 66 und 76. Vieles sprechen wir aus unserem Denken heraus und benennen es als ‹wahr›, wenn das Gesehene oder Gehörte sich in unsere angelegten Gedankenstrukturen einfügt. So bewerten wir zum Beispiel jemanden oder etwas als ‹schön›, wenn sich eine Form oder ein Bild in uns mit dem Urteil des Schönseins eingeprägt hat. Schönheit ist jedoch vor allem eine spürbare Ausstrahlung, die jeder Mensch, der mit sich selbst in Liebe verbunden ist, aussendet.
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